"Lesen stärkt die Seele." (Voltaire)

Kindliche Leseexzesse und erwachsene Sammelwut - habt Ihr ähnliche Erinnerungen bzw. Erfahrungen?

Eines steht fest: Hier herrscht Einigkeit zwischen Voltaire und mir, was das Lesen betrifft.

In jedem Raum meiner Wohnung, das Bad aufgrund von Feuchtigkeit ausgenommen, biegen sich die Regalbretter, überladen mit Büchern. Hintereinander, nebeneinander, wenn es gar nicht mehr anders geht, auch schon einmal übereinander. Selbst Geschirr, Hausrat und Kleidung mussten dafür schon weichen.

Wahrscheinlich werde ich einen Großteil meiner Schätze in diesem Leben gar nicht mehr lesen können.

Ein Anfang ohne Ende. Aber immerhin mit Pausen. Denn natürlich sammele ich nicht wahllos, konnte aber manche Perle der Schreibkunst, die es aus unerfindlichen Gründen nicht auf die Bestsellerlisten geschafft hat, schon für mich entdecken und dann auch anderen empfehlen. 

Der Samen für meine Bücherliebe wurde unzweifelhaft in meiner frühesten Kindheit von meiner Mutter gelegt.

Es begann mit den alten Lesefibeln meiner Eltern, deren wunderschöne Ludwig-Richter-Kupferstiche ich liebevoll ausmalte. Lesen konnte ich damals noch nicht. Was mich nicht hinderte, auf einem Bänkchen in Mutters Küche ohne Pause aus einem Buch auf meinen Knien leise vor mich hinzubrabbeln.

Reine Begeisterungsstürme lösten dann die Buchstaben in Klasse 1 in mir aus. Selbst so einfache Sätze wie „Lilo geht in den Kindergarten“ erschienen mir magisch. Das Lesebuch blieb auch über viele Schuljahre hinweg mein liebstes Schulbuch und ich der unangefochtene Liebling aller Deutschlehrer bis zum Abitur.

Nun waren auch gute Bücher in der damaligen DDR häufig Ware, die nur unter dem Ladentisch weiter gereicht wurde. Obwohl meine Mutter anscheinend einen Geheimpakt mit der Buchhändlerin meines Heimatortes geschlossen hatte, damit auf dem Gabentisch zu Weihnachten oder zum Geburtstag die neuesten Bücher für mich nie fehlten, reichte das bei Weitem nicht, um meinen Lesehunger zu stillen.

Weder ihre Bücherschränke noch die meiner älteren Geschwister waren vor meinen Attacken sicher, ältere Frauen aus der Nachbarschaft, Großtanten und irgendwann die örtliche Leihbücherei mussten dazu beitragen, neuen Lesestoff für das kleine Mädchen zu besorgen.

Die Spannbreite war groß und teilweise schon kurios. Während die mütterliche Auswahl eher klassisch war, machte ich auch vor den alten Jungmädchenbüchern, von der West-Omi eingeschmuggelten Julia-Romanheften oder Karl-May-Schmökern nicht Halt. Gar nicht so einfach, weil diese in der DDR zur sogenannten Schundliteratur gehörten.

War davon einmal gar nichts zu haben, konnte ich mich auch des Nachts an „Mohr und die Raben von London“, einer kindgerechten Karl-Marx-Biografie oder an den Indianerbüchern der DDR-Autorin Liselotte Welskopf-Henrich begeistern.

Leicht war das nicht immer, da meine Schwester und ich uns ein Zimmer teilten und sie im Gegensatz zu mir lieber nachts schlief und auch nicht von meiner Nachttischlampe gestört werden wollte. Manchmal konnte es deshalb schon recht anstrengend mit der nächtlichen Lektüre werden, oft unter der Bettdecke mit der Taschenlampe und ängstlich auf jede Bewegung von ihr achtend.

Waren es geliehene Bücher, wurde es richtig kompliziert. Meine Mutti hatte mir gesagt, dass ich fremde Bücher nicht mit ins Bett nehmen solle, da das unhygienisch sei. Was also tun? Ich wusste mir mit meinen gestrickten Fausthandschuhen zu helfen, auch wenn das Umblättern damit eine echte Herausforderung war. 

Eine weitere Leidenschaft waren lange Zeit Märchen aller Herren Länder. Neben meiner eigenen Sammlung schleppte ich sie bergeweise aus der Bücherei nach Hause. Immer wieder schrieb ich das eine oder andere mir dafür besonders geeignet Erscheinende zu einem Theaterstück um und suchte dann verzweifelt nach geeigneten Akteuren. Erfolg hatte ich damit nur selten. Erklärte sich auch die eine oder andere Mitschülerin mal bereit, so doch nur unter der Bedingung, dass ich sie in der Schule abschreiben ließ.

Während meine Mutter, Schwester und Bruder recht nachsichtig mit meiner Lesewut umgingen, beäugte mein Vater das Ganze eher mit Argwohn. So wurde so manches unter dem Bett, auf der Toilette und anderen Orten versteckte Buch von ihm konfisziert. Er fand einfach, dass das viele Lesen ungesund sei und ein Kind nach draußen an die frische Luft gehörte. Dass ich selbst im Hühnerstall ein Buch versteckte und mich nur deshalb freiwillig zum Stall ausmisten meldete, entzog sich aber, glaube ich, bis zum Schluss seiner Kenntnis.

Der erste Bruch meiner Leseleidenschaft kam dann unweigerlich, als ich das sogenannte Tal der Ahnungslosen im Dresdner Raum verließ und nach Studienabschluss ins thüringische Erfurt zog. Jetzt war Fernsehen angesagt. Meine Eltern verweigerten uns und sich selbst bis zu ihrem Tod ein Fernsehgerät. Nicht nur, weil wir damals keinen Westempfang hatten. Sie empfanden es als Zeittotschlag-Maschine.

Ich hingegen hatte einen ungebremsten Nachholbedarf, der damals nur von den öffentlich-rechtlichen Sendern ARD und ZDF mit dem mitternächtlichen Sendeende gebremst werden konnte. So manchen Samstag stierte ich zum Beispiel drei Filme hintereinander blödsinnig in die Flimmerkiste, um nach dem dritten den Inhalt des ersten nicht mehr zu wissen.

Gott sei Dank ist das nicht immer so geblieben. Obwohl es auch heute noch so mancher Fernsehkrimi schafft, abendliche Erschöpfung erträglicher zu machen, ist getreu Voltaires Zitat, das, was mich wirklich stärkt und hält, mein reicher Büchervorrat.

Die Lesedauer lediglich besser rationiert als in Kinder- und Jugendtagen, das aber nur, weil mir nun inzwischen die Augen natürliche Grenzen setzen.

Voltaire – eigentlich Francois-Marie Arouet (1694-1778) war der französische Schriftsteller und Philosoph der Aufklärung schlechthin, so dass man in Frankreich das 18.Jahrhundert auch gern als das Jahrhundert Voltaires bezeichnet. So schrieb Voltaire nicht nur für das französische Bildungsbürgertum, sondern auch für die gesamte europäische Oberschicht, die gewöhnlich nicht nur die französische Sprache beherrschte, sondern u.a. auch Voltaires Werke im Original las.

Als kritischer Denker erhob er in seinen Werken das Wort gegen die Vorherrschaft der katholischen Kirche und damit einhergehenden religiösen Fanatismus, aber auch gegen die damalige Feudalherrschaft. Er gilt deshalb auch als leidenschaftlicher Vorreiter der französischen Revolution. Hervorragende Kenntnisse anderer Sprachen, wiederholte Aufenthalte außerhalb Frankreichs ermöglichten ihm schon damals über den Tellerrand Frankreichs hinaus einen fast europäischen Blick.